MaxFun Sports Laufsport Magazin
Die Schale ist voll
08.09.2009, 12:00:00
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Er hatte eine lange Reise hinter sich, die er teilweise laufend aber auch gehend hinter sich gebracht hatte. Im Kloster angekommen wurde er nach einer kurzen Mahlzeit sofort in des Meisters Zimmerchen geführt und von Roshi zum Hinsetzen aufgefordert. Wie es der Brauch ist, wurde von einem der Mönche Tee serviert und in die Schalen gegossen. Als der Mönch aber aufhören wollte, nachzugießen, bestand der Meister darauf, dass er noch mehr einschenken sollte. „Mehr! Mehr!“ befahl er und selbst als die Schale bis zum Rande gefüllt war und der Mönch nichts weiter eingießen konnte, verlangte der Meister voller Strenge: „Mehr!“ Da konnte sich der junge Gast nicht länger zurückhalten und wies den Meister darauf hin, dass die Schale überlaufe. Dieser aber erwiderte voll Ruhe: „Wenn man etwas von einem anderen lernen möchte, muss man sich zuerst leer machen, ansonsten gibt es keinen Raum, in welchen die Unterweisung eingehen kann. Du solltest deshalb jetzt lieber wieder nach Hause gehen.“ Der junge Gelehrte schämte sich bei diesen Worten und von diesem Tag an begann er noch ernsthafter nach der Wahrheit zu suchen. Täglich begab er sich auf lange Wanderungen, während denen er meditierte und nachdachte. Die übergelaufenen Schalen und des Meisters beschämende Belehrung gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wer also auf der Suche nach Wahrheit ist, sollte sich „leer machen“, der eigenen Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit ins Auge sehen, sich dem Leben mit all seinen Widersprüchen und Leiden stellen, denn diese sind das unausweichliche Karma, das uns gegeben ist. Wer sucht, der muss tief in sein inneres Selbst hineinschauen, die eigenen Möglichkeiten erkennen und über sich selbst völlig verzweifeln. Erst aus dieser bitteren und schmerzvollen Erfahrung können Erkennen, Demut und Dankbarkeit als geistige Kraft hervorbrechen. In der Zen-Lehre heißt es deshalb: „Einmal den Großen Tod sterben“, was bedeutet, dass das Gefäß, das Selbst heißt, geleert werden muss. Für jene, die schon länger als Zen-Runner unterwegs sind, besteht die Möglichkeit, sich einmal bei einem langen Kontemplationslauf auf dieses „leer Werden“ zu konzentrieren. Mag sein, dass man dann zwar nicht gleich den Großen Tod stirbt aber vielleicht einige kleinere, aus denen es auch etwas zu lernen und erkennen gibt. Dr. Günter Heidinger |