Das letzte Mal?

Weiß Gott wie viele Wettkämpfe gekämpft sind, welche Unmengen an Startnummern in all den Jahren verbraucht wurden,

wie groß die erlittenen Schmerzen sind, und doch habe ich mich wieder angemeldet zum „Bewerb der Bewerbe“, dieser eine muss unbedingt noch sein. Wenn möglich mit einer neuen Bestzeit, wenn möglich vor dem besten Freund ins Ziel, wenn möglich Sieg. Wenn nicht, dann wenigstens eine Leistung, mit der man den Umständen entsprechend zufrieden sein kann, Wind und Wetter getrotzt, die nicht perfekte Vorbereitung im Hinterkopf habend.  

Wissend, dass harte Trainingskilometer her müssen, dass Training wieder strukturierter stattfinden muss, die „Lust & Laune“-Einheiten in den Hintergrund rückend. Weniger Alkohol muss sein, auch wenn’s grad in den Sommermonaten schwerfällt, auf das kühle Blonde zu verzichten, zumindest auf das Zweite und Dritte (das Vierte und das Fünfte darf dann wieder genossen werden...), mehr Schlaf, weniger Stress, man hört wieder mehr in den Körper hinein, bemerkt ein erstes Zwicken und Zwacken, unternimmt sofort Altbewährtes dagegen, und doch…   WARUM?

Warum schon wieder? Sollte es nicht irgendwann einmal genug sein? Man weiß doch ohnehin, dass man unter gewissen Voraussetzungen gewisse Leistungen erbringen kann. Wunder gibt’s keine, zumindest nicht im Ausdauersport. Man weiß auch, wie schwer die letzten Kilometer sind, wie fürchterlich die Beine schmerzen, wie schrecklich die Lunge brennt, kennt das Gefühl des sich im Körper ausbreitenden Laktats, erinnert sich gut an den Blutgeschmack in Hals und Mund.  

Wieder nervös die Startunterlagen abholen, sich heruntertapern, die Wettkampfschuhe hervorholen, die letzten Minuten, Sekunden vor dem alles erlösenden Schuss, die ersten Meter, Kilometer, Gegner beobachten, lauschen, ob schon gekeucht wird, Position beziehen, Rhythmus finden, den Rhythmus der anderen durcheinanderbringen, hoffen, dass man die richtige Taktik gewählt hat, Ziel. Alles fällt von einem ab, entweder Glücksgefühl oder auch nicht. Danach der eine oder andere Smalltalk über das Rennen, in den letzten Jahren immer kürzer gehalten, weil eh immer dasselbe, vielleicht diesmal gar keiner mehr, wozu auch, es ist doch alles schon gesagt.   WARUM ALSO TROTZDEM NOCH EINMAL?

Weil wir siegen wollen. Weil wir die ersten beim Kadaver sein wollen, nein, müssen, um zu überleben. Die anderen schlagen, um nicht selbst geschlagen zu werden. Tief in uns drinnen lebt sie, diese Vor-/Einstellung, dieses Verhaltensmuster, beim einen mehr, beim anderen weniger ausgeprägt. Wir laufen im wahrsten Sinne des Wortes auch davon, vor uns selbst, weil vor den anderen, die uns schlagen wollen, und weil wir vielleicht auch wissen, dass alles eins ist, eben auch vor uns. Es geht nur ums Jagen und Gejagt werden, ums Fressen und Gefressen werden, oder eben ums Nicht-gefressen-werden, es geht darum, dass die Stärksten ihre Gene weitergeben können, so oft und so vielfältig wie möglich.  

Banal. Sehr banal. Aber Leben ist banal. Leben an und für sich, Leben in seinem reinsten Sein und Wesen. Der Mensch ist scheinbar ausgestattet mit Verstand und Gefühl und will all dies meist nicht wahrhaben, zu erhaben für diese Einfachheit hält er sich. Und doch gibt es kein Zurück. Wir sind nichts. Oder alles. Oder alles ist nichts. Und gerade deshalb werde ich diesen einen Wettkampf noch machen, mich wieder in meinen tiefsten Abgründen sehen, demütig werden, wie schwach ich doch sein kann, wie reduziert auf diese wenigen Minuten und dieses karge Sein, diesen Schmerz, der für Menschen, die noch nie einen solchen erlitten, unbeschreiblich. Aber dann ist Schluss. Ich schwör´s!

Christian Kleber (MAS)

Christian Kleber