Marathonimpressionen

Bericht von Dr. Günter Heidinger

8.35 Uhr – U-Bahn, Linie 1: Jedes Jahr werden es mehr – man mustert die anderen, man erkennt sich – am Chip, an der Kleidung! Was mag wohl seine Bestzeit sein…? Etwas dicke Beine hat er… so knapp unter vier schätze ich… Aber heißt es nicht immer, jeder sei ein Sieger, egal wie lange er braucht? Anscheinend gibt es auch unter Siegern nochmals Sieger und Besiegte… ist nicht so ganz stimmig, diese ewig gehörte Phrase!

8.45 Uhr – Start, Wagramerstraße: Bald wird es ernst… jetzt hat man es schon ein wenig leichter: die Punkte auf den Startnummern – die Sieger und Besiegten sind schon stigmatisiert – stolz bin ich auf meinen Punkt, zeigt er doch allen, dass meine Zeit keine so schlechte ist… schnell noch mal in die Sträucher, die Plastikklos sind sowieso immer besetzt und … voll bis oben hin… man ruft uns zum Start… „Was macht aus einer Menge eine Masse?“

9.02 Uhr – Reichsbrücke: Da war doch mal eine Dokumentation im Fernsehen, wie viel Schwankungen so eine Brücke aushält – 23.000 Menschen in der Donau… die Triathlonjahre werden sich bezahlt machen!

9.20 Uhr – Hauptallee: Unfassbar wer da aller vor einem oder neben einem läuft – dem hätte ich das nie zugetraut – wahrscheinlich Staffel… der C. läuft auch wieder… ob er während des Laufens auch über Politik nachdenkt? Manche keuchen jetzt schon als gelte es, den Zielsprint einzuleiten… was geht vor in ihnen? Haben sie vergessen, was sie hier tun… Masse? Menge? Herde? Wahnsinnige? Getriebene? Euphorische? Endorphine… - die kommen ja angeblich erst viel später?

10.10 Uhr – Wiental: Endlich: ich überhole doch hin und wieder jemanden… verdammt – die Blase meldet sich – wohin? Baum, Plastikklo oder einfach in das Rinnsal? Die wertvollen Sekunden, die da verloren gehen – alles umsonst – aber worum geht es eigentlich? Was veranlasst mich, mir das Wasserlassen zu verbieten? Die Masse, die Menge? Bin ich wahnsinnig, getrieben, euphorisch? Sind die Endorphine doch schon da? Heißt es nicht, Marathon in Wien sei ein Erlebnis? – die Stadt, die Sehenswürdigkeiten, das Publikum, heuer sogar Mozart – ich bleibe stehen, wähle einen Baum… und sehe mir dabei Schloss Schönbrunn an!

10.40 Uhr – Ringstraße: Die Blase – verdammt, das gibt’s ja gar nicht – aber macht nix… ab jetzt bin ich Marathontourist, pfeif auf die Menge, die Masse, die Herde, die Wahnsinnigen, die Getriebenen… stehen bleib ich, einen Baum wähle ich… und sehe mir dabei das Parlament an!

11.00 Uhr – Donaukanal: Hab ich den nicht schon mal überholt? Er winkt ständig dem Publikum – lässt sich feiern… hat er übersehen, dass die Sieger in wenigen Minuten schon im Ziel sein werden? – ah: jeder ist ein Sieger – also doch – vielleicht winke ich auch mal… erstaunte Blicke… Ein Gespräch: „Wie schnell möchtest du denn laufen? – Super – da können wir gemeinsam laufen!“ – „Ja, gemeinsam!“

11.05 Uhr – Donaukanal: „Du brauchst aber nicht auf mich zu warten, ich glaub ich lauf etwas langsamer!“ Hat er tatsächlich gedacht, dass ein anderer Läufer beim Marathon auf ihn wartet? – Sieger, Besiegte…

11.30 Uhr Hauptallee: Da waren wir doch heute schon mal… Mozart, endlich – und langsamer Werdende, Hinkende, gar nicht mehr Euphorische… schon wieder weg die Endorphine? Kommen erst… Man winkt mir… nein man bedauert mich… bewundert mich… belächelt mich? „Jeder ist ein Sieger!“ Diese verfluchten Verpflegungsstellen: Becher… überall Becher… halbvolle, leere am Boden… zu faul zum Greifen… ist sowieso bald aus… „trinken, nur nicht auf das Trinken vergessen“… jetzt weiß ich, was ich hätte tun sollen… wer räumt das alles eigentlich wieder weg… ein Schlachtfeld… Marathon… war da nicht mal was von einer antiken Schlacht... „Die Loslösung vom Willen ist die Vorbedingung für Erkenntnis“… oder so ähnlich! Laufen als Medium zur Erkenntnis der Ideen… oder so ähnlich! Atem zählen: eins, zwei, drei… zehn, wieder von vorne… eins, zwei,… pfeif drauf, die Beine schmerzen zu sehr… wo zum Teufel bleiben diese Endorphine?

12.05 Uhr Ringstraße: Da waren wir doch auch schon mal heute… Marathon in Wien: die Sehenswürdigkeiten… wo war eigentlich heuer der Prater? War immer so ambivalent – das Schweizerhaus… ein Bier oder weiter laufen… der Neid… ein Bier… Prost – da war doch immer ein Läufer, der sich beim Schweizerhaus eines genehmigt hat – wo ist er – hab ich ihn nicht überholt vor wenigen Minuten? Das Denken funktioniert nicht mehr so richtig… wo sind die Endorphine? Ich überlasse mich der Euphorie des Publikums…

12:09 Uhr Heldenplatz: Schön war es… aber: Wo verdammt noch mal sind die Endorphine?

Dr. Günter Heidinger
g.heidinger@maxfun.at

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