MaxFun Sports Laufsport Magazin
Vom Marathon zum Ultramarathon
07.03.2002, 12:00:00
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Den Marathon das nächste Mal einfach schneller laufen? Wesentlich besser zu trainieren als schneller zu laufen ist es: länger zu laufen. Deshalb kann die nächste realistische Herausforderung auch ein Ultra-Marathon sein. Vielleicht kommt ein kleiner Impuls in diese Richtung auch durch die Tatsache, dass Markus Thalmann beim Sri Chinmoy 100km Lauf in Wien am 24.6.01 mit der österr. Bestleistung von 6:57:26 (Marathondurchgangszeit: 2:48!) erstmals die 7-Stunden Schallmauer durchbrochen hat. In diesen Dimensionen bewegen sich die Spitzenleistungen im Ultra-Langstreckenlauf (Siehe Laufsport 7/01) Was ist ein Ultra-Marathon, bzw. ein Ultralangstreckenlauf? Definitionsgemäß jede Strecke jenseits der magischen 42,195 Marathonkilometer. Das können Läufe über bestimmte "runde" Distanzen sein wie 50km, 100km oder mehr. Im anglikanischen Raum haben sich v.a die Wettkämpfe über 50 Meilen (eine Art Doppel-Marathon) und 100 Meilen (= ca. 161km) etabliert. Die Läufe können auf der Straße, im Gelände oder auch auf der Laufbahn (100km = 250 Runden auf der 400m Bahn!) stattfinden. Es gibt Klassiker wie die 100km von Biel, den Swiss Alpine Marathon (ca. 67km plus viele Höhenmeter), den Comrades-Marathon in Südafrika bis hin zum 1300 Meilen-Lauf (über 2000km) in New York auf einer 1-Meilen Runde (!). Ultraläufe werden häufig auch über eine bestimmte zeitliche Dauer durchgeführt, d.h. wer in der vorgegebenen Zeit die meisten Kilometer zurücklegt, hat gewonnen. In Österreich hat sich während der letzten Jahre ein Klassiker dieser Kategorie etabliert, nämlich die 24-Stunden von Wörschach. Dank eines überaus engagierten Organisationsteams gehört diese Veranstaltung für Einzelläufer und 4-er Staffeln zu den besten Rennen Europas. Sind Ultralangstreckenläufer alles Spinner oder Masochisten? Ist ein Lauf über 100km auch beim zweiten Gedanken daran so unvorstellbar? Wenn Laufen an sich Spaß macht, wenn die "intrinsische" Motivation die Haupttriebfeder ist, dann ist die logische Konsequenz: möglichst lange zu laufen um möglichst ausgiebig die Schönheit des Laufens genießen zu können. "Ultras" sind deshalb keine Masochisten, sondern Genuss-Menschen. Niemand bleibt lange Zeit beim Langstreckenlauf, wenn das Laufen nur zu einem bestimmten Zweck - zum Erreichen bestimmter Leistungen - betrieben wird. Ein Werk kann nur dann gut werden, wenn man Freude an der Gestaltung hat. Ein Blick in die Gesichter von Ultralangstreckenläufern lässt kaum Aggressivität und Verbissenheit erkennen. Auf den langen Strecken dominiert Ruhe, Gelassenheit, Zufriedenheit, eine gewisse Abgeklärtheit, aber doch höchste Konzentration. Ein 100km Lauf ist weniger Stress als ein Marathon. Kein Kampf um Sekunden, sondern ein harmonisches Weiterbewegen und weiter und weiter und weiter .... Die meditative oder gar spirituelle Komponente erhält einen hohen Stellenwert. Eine Entrückheit und Distanz nicht nur gegenüber den körperlichen Strapazen, sondern auch gegenüber den Problemen des Alltags. Gelassenheit ist auch eine Frage des Alters und der geistigen Reife. Bei Ultra-Läufen dominieren deshalb nicht die 20 - 30-jährigen Läufer, sondern die nächsten und übernächsten Dekaden. Die Leistungen sind auf diesen Strecken am wenigsten an ein bestimmtes Alter geknüpft und auch am wenigsten an ein bestimmtes Geschlecht. Auch wenn die Frauen trotz geringer werdendem Abstand wohl nie an die Leistungen der Männer herankommen werden, die extremen Langzeitausdauerbelastungen kommen der weiblichen Physis und Psyche sehr entgegen. Nicht nur einmal ist es passiert, dass z.B. die US-Amerikanerin Ann Trason bei gemischten Läufen weit vor dem ersten Mann ins Ziel gekommen ist. Haben Sie sich auch schon einmal bei einem Dauerlauf dabei ertappt, dass Sie plötzlich nicht mehr wussten, wo Sie die letzte halbe Stunde eigentlich gelaufen sind? Wo die Gedanken fremd gegangen sind, wo die linke Gehirnhälfte das Kommando übernommen hat und Sie das Gefühl hatten, scheinbar ewig so weiterlaufen zu können? Wenn ja, dann sind Sie ein auch ein potenzieller Ultralangstreckenläufer. Jemand, für den die Einsamkeit des Langstreckenläufers kein Schreckgespenst ist. Übrigens: die Sache mit den Endorphinen mag zwar eine (deutlich überbewertete) Rolle spielen, doch die Sucht nach der Ausschüttung von "Glückshormonen" ist offensichtlich ein Erklärungsansatz von Nicht-Läufern, die sich nicht vorstellen können, dass Laufen Spaß macht - einfach so. Trotz aller Entrücktheit ist für eine Teilnahme an einem Ultralangstreckenlauf natürlich auch ein seriöses Training notwendig. Entsprechende mentale Voraussetzungen können lediglich helfen, das physische Potenzial möglichst auszuschöpfen. Also zurück in die Niederungen der Trainingslehre und der Sportwissenschaften. Über welche physischen Eigenschaften muss ein Läufer verfügen, der extrem lange Distanzen erfolgreich zurücklegen möchte? Zuerst einmal muss der Bewegungsapparat so lange Belastungen verkraften können. Während vor 20 Jahren sogar viele Sportmediziner noch von "Abnützungserscheinungen" von Gelenken durch das Lauftraining sprachen, weiß man heute, dass degenerative Erscheinungen an den Gelenken v.a. durch Bewegungsmangel entstehen. Das Skelett ist keine tote Materie, die sich von Geburt an abnützt. Auch Knochen und Gelenke können trainiert, d.h. in ihrer Funktionalität verbessert, werden, auch wenn die Anpassungserscheinungen wesentlich länger dauern als beim Herz-Kreislaufsystem und der Muskulatur. Man muss also das ganz System langsam und schrittweise an zunehmend längere Belastungen gewöhnen. Schmerzen sind dabei immer das Zeichen einer unphysiologischen Belastung und meist in einer zu sprunghaften Belastungssteigerung begründet. Der Körper hält fast alles aus, man muss ihn nur langsam daran gewöhnen. Das Herzinfarktrisiko ist bei einem trainierten Teilnehmer an einem 100km Lauf jedenfalls wesentlich geringer als bei einem Untrainierten, der einmal 100m der Straßenbahn nachsprintet. Das Training selbst ist primär auf das Erreichen einer größtmöglichen Laufökonomie hin ausgerichtet. Jeder Hobby-Jogger hat genügend Schnelligkeit, um ein Weltklasse-Ultralangstreckenläufer zu sein. Die Kunst ist es, eine niedrige bis mittlere Laufgeschwindigkeit über eine extrem lange Zeitdauer durchzuhalten. Die bestmögliche Ökonomisierung in verschiedenen physiologischen Teilbereichen sichert eine gleichmäßige hohe Leistung über eine lange Zeitspanne. Ökonomisierung bedeutet, eine bestimmte Geschwindigkeit mit geringerem Aufwand zu bewältigen, d.h. konkret: · niedrige Beanspruchung des Herz-Kreislauf-Systems (niedriger Puls) · niedrige energetische Beanspruchung (geringer Energieverbrauch) · niedrige Beanspruchung des passiven Bewegungsapparates (Sehnen, Bänder, Gelenke) durch eine ökonomische Lauftechnik. Der sicherste Weg zum Erreichen einer guten Laufökonomie ist immer noch das Absolvieren vieler Laufkilometer. Unter dem Motto: nach 10.000 Kilometern wird der Bewegungsablauf irgendwann rund werden. Trotz der letztlich marketingorientierten Bemühungen von verschiedenen Seiten, den Bewegungsablauf des Laufens als ziemlich kompliziert hinzustellen, den man nur durch teure Seminare und Bücher erlernen kann, die Praxis ist immer noch der beste Lehrmeister. Da aber über eine lange Zeitdauer (z.B. 10 Stunden) immer nur ein bestimmter Prozensatz der Geschwindigkeit an der anaeroben Schwelle durchgehalten werden kann, besteht das Training der Ultras nicht nur aus ruhigen, langen Dauerläufen. Auch wenn das Training der besten 100km Läufer große individuelle Unterschiede aufweist, weitgehende Übereinstimmung herrscht hinsichtlich der Ansicht, dass pro Woche eine "schnelle" Einheit sinnvoll erscheint. Um die Leistung an der anaeroben Schwelle zu verbessern, bzw. zu erhalten, sind Einheiten wie 5 x 2000m oder auch 15 x 1000m in der Nähe des (tatsächlich) möglichen 10km-Wettkampftempos zu empfehlen. Kürzere Tempostrecken wie 20 x 400m oder 50 x 200m erscheinen kaum sinnvoll, da diese Einheiten zu unspezifisch sind. Ab und zu kann statt einer schnellen Trainingseinheit natürlich auch eine Teilnahme an einem Wettkampf über die üblichen Volkslaufdistanzen (6 - 21km) am Programm stehen. Die wichtigste, weil am meisten spezifische, Einheit ist naturgemäß der lange Dauerlauf, der im Bereich des (100km-) Wettkampftempos oder etwas langsamer (vielleicht 30 Sekunden pro Kilometer) absolviert wird. Hinsichtlich der Länge gibt es sehr unterschiedliche Empfehlungen und Erfahrungen. Günstig erscheint, alle 2 bis 3 Wochen während der zielgerichteten Vorbereitung auf einen 100km Lauf Einheiten von 30 - 50km, im Extremfall bis 70km, zu absolvieren. Um eine größtmögliche Spezifik zu erreichen, sollte dabei das Trinkverhalten und die Ausrüstung für den Wettkampf getestet werden. Führen Sie Notizen über die gemachten Erfahrungen unter Berücksichtigung von äußeren Bedingungen, Vorbereitung, etc. um daraus zu lernen. Wichtiger als die Wochenkilometerleistung (Spitzenläufer liegen hier meist in einem Bereich von 110 - 250km) ist die durchschnittliche Dauer der einzelnen Einheiten. Besser als 5 - 6 Einheiten mit je 60 bis 120 Minuten sind 3 - 4 Einheiten, die dafür 90 - 180 Minuten und darüber dauern. Das Training sollte insgesamt nicht zu gleichförmig werden, nicht einfach Kilometer sammeln. Wie nach dem Pendelprinzip sollte spezifische Belastungen mit ausgeprägten Regenerationsphasen wechseln. 80 bis 90% des Trainingsumfanges sollten in Form von ruhigen, langen Dauerläufen absolviert werden (Bereiche A 1 und A 2 = 65/70% bis ca. 85% der max. Hf). Da die Belastung des Binde- und Stützgewebes oft die limitierende Größe darstellt, ist der Stellenwert des alternativen Ausdauertrainings höher als beim Marathonläufer. Ausgedehnte Wanderungen, lange Radtouren (6 - 10 Stunden) stellen nicht nur eine etwas andere muskuläre Belastung dar, sondern helfen den wichtigen Fettstoffwechsel anzukurbeln. Funktionsgymnastik und ein allgemeines Kraftausdauertraining sollten v.a. zur Verbesserung der Rumpfstabilität eingesetzt werden und damit Rückenbeschwerden und andere Folgen von Fehlbelastungen vermeiden helfen. Das Laufen über extrem lange Strecken bedeutet nun einmal eine sehr einseitige Belastung für die Muskulatur, weshalb ein Ausgleich wichtig erscheint. Die -zigtausendfache Wiederholung des gleichen Bewegungsablaufes (Laufschrittes) mit einer relativ kleinen Bewegungsamplitude führt zwangsläufig zu Muskelverkürzungen, weshalb Stretching zumindest zum Erhalt des normalen Bewegungsumfanges und zur Unterstützung der Regeneration bedeutsam ist. Während der langen Trainingsläufe und natürlich insbesonders beim Wettkampf kommt der Flüssigkeitszufuhr entscheidende Bedeutung zu. Die meisten Läufer verzichten auf feste Nahrung, weil dadurch Magen-Darmprobleme gehäuft auftreten. Bei Läufen bis 24 Stunden ist die Abdeckung des Energie- und Flüssigkeitsbedarfes über Sportgetränke und Gels sicherlich ausreichend. Für die Getränke gelten die üblichen Empfehlungen, d.h. 5 - 8% Kohlenhydratlösungen (v.a. komplexe Kohlenhydrate, kaum Zucker oder Fruktose), etwas Natrium und andere Mineralstoffe, wobei die Lösung leicht hypoton oder isotonisch sein sollte. Ab und zu Wasser ist durchaus in Ordnung, aber Wasser alleine kann bei sehr langen Wettkämpfen sogar gefährlich werden (mehrere Fälle von Hyponatriämie beim Comrades-Marathon). Da die Kohlenhydratspeicher bei einer Wettkampfdauer von 10 Stunden oder mehr (ähnlich wie bei einem Ironman-Triathlon) nur für einen Bruchteil der Distanz reichen, ist neben der Kohlenhydratzufuhr über Getränke während des Wettkampfes die leichte Verwertbarkeit der Fettspeicher entscheidend. In der einschlägigen Literatur heißt es zwar immer wieder, dass jeder Läufer genügend Fett gespeichert hat, bei extrem nierigem Körperfettanteil gibt der Körper das wenige Fett offensichtlich nur widerwillig her, weshalb es hier zu Engpässen kommen kann. Die Energiebereitstellung über das körpereigene Eiweiß (= Muskulatur) spielt dann eine zu große Rolle und der Sport wird zum tatsächlichen Raubbau am Körper. Das ist der Grund dafür, warum die Ultralangstreckenläufer und Ironman-Triathleten üblicherweise nicht so dürr wie manche der besten Marathonläufer sind, sondern einen etwas höheren Fettanteil haben. Thomas Hellriegel, deutscher Sieger des Hawaii Ironman, hat mir erzählt, dass es ihm nach einem langen Tief dann wieder gut ging, als er Schokolade und Kuchen wieder in seinen Speiseplan aufnahm. Bei Läufen über mehr als 24 Stunden, die allerdings recht selten sind, kommt noch das Problem des Schlafentzugs hinzu. Diese zusätzliche Dimension lässt sich schwer trainieren und es gibt viele Mediziner, die hier zumindest die Möglichkeit von negativen gesundheitlichen Langzeitfolgen sehen. Studien gibt's naturgemäß keine, aber auch ein Race across America macht schließlich niemand als Gesundheitsförderungsaktion, sondern als ultimative Herausforderung, als Ausloten der persönlichen Möglichkeiten. Aber bis dorthin gibt es ohnehin noch eine große Bandbreite, die jenseits des Marathons liegt und darauf wartet, ausgelotet zu werden. Wilhelm Lilge |